Wir müssen zivilisierter miteinander reden (ungekürzt)

(In der Cicero habe ich am 16.8.2017 darüber geschrieben, warum und wie wir zivilisierter miteinander reden müssen. Für die Cicero musste der Text gekürzt werden. Hier findet sich eine ausführlichere Version, in der auch die große Hannah Arendt vorkommt)

– Politische Debatten sind wichtig. Sie müssen aber sachlich, kritisch und selbstkritisch geführt werden. Wer nur dämonisiert und polarisiert, wie es im Streit um die Hamburger Krawalle viel zu oft gemacht wurde, stärkt die Barbarei.

Diskutieren kann klüger machen. Die Bereitschaft, verschiedene Blickwinkel ehrlich nachzuvollziehen, hilft Denkfehler zu entdecken, erweitert den Blick und fördert gegenseitige Achtung. Es gibt aber auch eine Art der Debatte, die die Menschen dümmer macht und gegenseitig aufhetzt. In den letzten Jahren wurden viele der öffentlichen Debatten eher auf diese schlechte Weise geführt.

Das zeigt sich am Streit um die Krawalle in Hamburg:

Da erklärte eine Schanzenbewohnerin im Interview mit N24, die Krawalle seien „ein richtiger Holocaust” gewesen. Zwar sollten solche Worte, die in der Wut gesprochen wurden, nicht überbewertet werden, das Problem ist aber: Sie sind keine Ausnahme. In so gut wie allen Online-Kommentarspalten wurden Autonome mit IS-Terroristen verglichen. Auch eigentlich seriöse Politiker wie Innenminister De Maizière und Peter Almaier erklärten, es gäbe keinen Unterschied zwischen Linksextremen, Rechtsextremen und islamistischen Terroristen. Solche Sprüche sind gefährlich.Sie polarisieren und dämonisieren, und sie vermitteln ein verzerrtes Bild der Realität.

Wären nämlich in Hamburg 1500 IS-Terroristen statt 1500 Autonomen unterwegs gewesen, dann wären viele tausend Menschen getötet worden. Tatsächlich starb aber kein einziger. 21 Polizisten konnten am nächsten Tag nicht arbeiten, davon waren drei schwer verletzt. Jeder dieser Verletzten ist einer zu viel. Dennoch ist es Humbug, die Autonomen mit IS-Terroristen zu vergleichen. Für all die Behauptungen es seien Polizisten mit Molotowcocktails, Zwillen, und Gehwegplatten angegriffen worden, gibt es keine Belege, und das, obwohl überall gefilmt wurde. Die Krawalle waren unfair, kriminell und für viele der Anwohner sehr beängstigend. Aber faschistisch oder totalitär waren sie nicht. Auch die vielen Rechtsbrüche der Polizei waren nicht faschistisch. Aber sie waren Rechtsbrüche, die sich ein rechtsstaatliche Ordnung nicht erlauben darf, will sie eine bleiben. Debatten, die aufklären wollen, müssen präzise und sachlich geführt werden. Diese Sachlichkeit fehlte auf allen Seiten. Martin Schulz‘ Aussage, Links-Sein und Gewalt widersprächen sich, ist eine Kommunikationsverweigerung. Und wenn der SPD-Landesvorsitzende Ralf Stegner behauptet, Gewalt gehöre nur bei den Rechten zur DNA“, dann ist das sachlich falsch und diffamiert alle anständigen Rechten und Konservativen. Zu Recht wurde in verschiedenen Artikeln, auch in der Cicero, darauf hingewiesen, dass von Stalin über die RAF bis hin zu schlimmeren Krawallen in der bundesdeutschen Geschichte die Linke als Ganzes keineswegs pazifistisch war und ist. Gewalt wohnt jedem Kampf um Einfluss und Macht unterschwellig inne. Das gilt sowohl für links, wie rechts, wie auch für die „Mitte“.

Die Gewalt der jeweiligen politischen Ausrichtung wird allerdings sehr unterschiedlich begründet. Linke verweisen auf die legale, systemische Gewalt, die unter anderen von den reichen europäischen Ländern über die Welt gebracht wird und auch bei Treffen wie in Hamburg organisiert wird: Von Landgrabbing, Sweatshops, riesigen Fischfängern, die Menschen in armen Regionen die Lebensgrundlage nehmen, subventionierte Waren, die auf Märkte ohnehin schwacher Ökonomien gezwungen werden, die Unterstützung reaktionärer Regime, der Forcierung einer antisozialen Politik, hin zu massenhaften Waffenverkäufen in aller Welt. Autonome argumentieren, dass so gesehen ein brennendes Auto bedeutungslos ist. Wo gehobelt wird, da fallen Späne, so die Logik. Späne wollen allerdings auch die betroffenen Wagenbesitzer nicht sein. Wer meint, Steine seien eben Steine und an einem Feuer wärme man sich halt, wie ein Autonomer im Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Monitor“ arroganterweise erklärte, der liebt die Menschen nicht. Der schert sich nicht die Bedürfnisse tatsächlicher Menschen, sondern stellt die Sache über die Rechte und Bedürfnisse einzelner. Das ist eine gefährliche Logik, weil sie auf den ersten Blick überzeugend scheint, weil die ganz große Sache, auch der Schutz der Armen und Erniedrigten dieser Welt, ganz notwendig dazu neigt, die Rechte, Eigenheiten und Bedürfnisse der Einzelnen zu verschlingen. Gleichzeitig ist es schwierig, politisch zu handeln, ohne eine größere Idee, an der wir uns orientieren und abarbeiten. Hannah Arendt hat sich zu diesem Problem sehr hilfreiche Gedanken gemacht. Sie erklärt, dass viele revolutionäre Ideen auf einer gefährlichen Grundlage ruhen: Die Idee des geeinten Volkes. So hätten in der französischen Revolution die hungrigen Massen zusammengefunden, in ihrem „Schrei nach Brot“. Wie ein einzelner Körper mit einem einzelnen und unbezwingbaren Willen wälzten sich die Massen durch die Straßen von Paris. Ein unglaublich starkes, ein religiöses Gefühl: „Das Volk“ war nun endlich in seinem „eigentlichen“ Interesse vereint. Die Ausbeuter, die von der Kraft des Volkes leben, werden abgeschüttelt wie eine lästige Fliege. Die Vielen und Einzelnen werden erlöst im großen Volkskörper. Diese Art der Revolutionsromantik teilen viele Linke und Rechte. Rechte fantasieren von einem ethnischen Volkskörper, Linke vom Menschengeschlecht, das endlich zu sich kommt und erwacht. Das Problem daran ist nur: Sobald der einende Schrei nach Brot verstummt ist, zerfällt der Volkskörper wieder in seine Teile. Die Unterschiede und Widersprüchlichkeiten erscheinen wieder und „zersetzen“ diesen Gemeinschaftskörper. Zusammengehalten werden kann dieser darum letztendlich nur mit Hilfe des Terrors. Hannah Arendt stellt hier nicht Links und Rechts gegenüber, sondern pluralistische und totalitäre Ideen. Totalitäre Ideen erkennen nur ein großes Gesetz an, das alles in der Welt restlos erklärt und von Gott, der Natur oder dem Weltgeist stammt. Im Angesicht dieser Idee sind Menschen nur Material.

Für die pluralistische Idee dagegen, ist der Mensch ein Selbstzweck. Pluralismus lässt sich gar nicht denken ohne die Gleichwertigkeit und Freiheit der Individuen. Politisches Handeln in seinem besten Sinne ist nicht das bloße Durchsetzen der eigenen Interessen, sondern es beruht auf den „vielfältigen Prozessendes Meinungsaustausches, des Hörens und Gehörtwerdens“,sowie auf der begrenzten Übereinstimmung, die daraus entsteht. Politik nach Arendt ist kein technischer Prozess.

Wir können nicht wissen, was am Ende herauskommt, wenn wir miteinander sprechen. Das kann frustrieren. Gleichzeitig erleben wir beim miteinander Sprechendie Menschenwelt in ihrer ganzen Schönheit, Realität und Komplexität. Wir erleben dabei gleichzeitig Gemeinschaftlichkeit und Individualität. Statt einem romantischen, aber letztendlich leblosen Ideal, gewinnen wir die reale Welt und spüren, dass die Welt veränderbar und real ist. Wesentlich ist dabei, dass wir das Denken üben, dazu gehört auch, uns in die Position der Anderen einzufühlen.

Das alles mag naiv klingen. Tatsächlich ist es aber ein sehr nüchternes und positives Konzept, das aus menschlichen Erfahrungen vieler Jahrhunderte gewonnen wurde: Da Menschen unterschiedlich sind und die Einzelinteressen sich niemals harmonisch ineinander auflösen lassen, ist Pluralismus wohl die einzig mögliche Grundlage einer friedlichen und gerechten Gesellschaft. Steine, Molotowcocktails und Zwillen, können eine gerechte Gesellschaft nicht erzwingen, denn Gewalt und miteinander sprechen stehen im Widerspruch zueinander. Sie verhärtet die Fronten und torpediert jedes friedliche Auskommen.

Pluralismus heißt allerdings nicht, dass alles geht. Eine pluralistische Ordnung muss geschützt werden, und zwar mit geregelter Gewalt. Die für diesen Schutz nötigen Regeln finden wir im Grundgesetz. Und dieses bietet zumindest in der Theorie genügend Möglichkeiten, für gewaltfreie Veränderung. Ein Problem dabei ist allerdings, dass Macht auch in unserer Gesellschaft sehr ungleich verteilt ist. Je mehr die Reichtumsschere auseinanderklafft, desto ungleicher ist auch diese Macht verteilt. Wenn weniger mächtige Teile einer Gesellschaft kein Gehör finden, funktioniert das pluralistische Prinzip nicht. Wer keine Stimme hat, zieht sich ohnmächtig zurück oder greift zur „Sprache“ der Gewalt. Darum kann Pluralismus nicht nur heißen, Gesetzestreue zu fordern. Erstens muss die Staatsmacht sich streng an die eigenen Regeln halten, zweitens müssen die verschiedenen Teile der Gesellschaft eine Stimme bekommen, die auch gehört und verstanden wird.

Wenn also die Polizei massenhaft Rechtsbrüche begeht wie in Hamburg, wenn Unschuldigen die Knochen gebrochen werden und gewaltfreie Sitzblockaden mit Pfefferspray und schweren Knüppelschlägen aufgelöst werden, dann ist auch das eine Gefahr für die pluralistische Ordnung. Und wenn Hamburgs Oberbürgermeister entgegen allerFakten behauptet, es hätte keine Polizeigewalt gegeben, dann ist das nicht besser, als die vielfach beschimpfte Aussage des Flora-Anwalts Beuth, die Autonomen hätten doch besser in anderen Vierteln randalieren sollen.

So zeigt sich auch eine autoritäre Gewaltbereitschaft der Mitte. Diese ist vielfach blind gegenüber der systematischen Gewalt, die von der Linken kritisiert wird. Sie zeigt sich auch, wenn verschiedenste Politiker kein Problem damit zu haben scheinen, dass in einer krassen Eskalation Polizisten mit Maschinengewehren gegen Steinewerfer eingesetzt wurden und Medien wie Politiker die Angaben der Polizei unhinterfragt annehmen, oder wenn die Bildzeitung fast zur Hetzjagd gegen Autonome aufruft. Die Ignoranz der sogenannten „Mitte“ gegenüber tatsächlichen und teils schreienden Missständen ist selbst eine Gefahr für die plurale Gesellschaft, und sie ist gefährlich, weil sie Fronten verhärtet und verhasste Feindbilder schafft.

Auch wer hopplahopp Links und Rechts gleichsetzt, sabotiert jede sinnvolle politische Debatte. Zwar finden sich mit Hilfe der Totalitarismustheorie Ähnlichkeiten zwischen Linken und Rechten, und doch sind linke und rechte Ideen gegensätzlich. Um es zu wiederholen: Autonome, die Kleinwagen anzünden und Polizisten angreifen, handeln kriminell und rücksichtslos. Allerdings töten sie in der allergrößten Regel keine Wehrlosen. Ihr erklärtes Ziel ist die Befreiung des Individuums von Herrschaft und Unterdrückung. Sie wollen ein gutes, glückliches und freies Leben für alle. Damit ist zwar oft eine quasi-religiöse Erlösungsvorstellung verbunden, mit der die tatsächlichen Menschen doch nur zum Mittel und nicht zum Zweck des Ganzen werden. Das ist ein Problem, mit dem Linke sich immer wieder auseinandersetzen und sich entscheiden müssen. Man muss die SPD nicht mögen, um aber festzustellen, dass sie das schon lange getan hat, und mit ihr der Großteil der Linken in Deutschland. Die wenigsten Linken befürworten Gewalt gegen Menschen. Stalinisten und autoritäre Kommunisten sind Randgruppen und werden in der Regel bei linken Demonstrationen abgedrängt, da sie linken Grundsätzen widersprechen. Insofern hätte Martin Schulz Recht, wenn er präziser gesagt hätte: „Unser Verständnis davon, was Links ist, lässt sich nicht mit Gewalt vereinbaren.“ Solche Präzisierungen sind wichtig und müssen in einer guten Debatte auch Rechten und Konservativen zugestanden werden. Die wenigsten CSU-Wähler und auch nur ein Teil der AfD-Wähler sind ausgemachten Rassisten oder Faschisten. In rechtskonservativen Zeitungen wie der FAZ und der Cicero werden auch gegenläufige Meinungen veröffentlicht. Beide bekennen sich klar zu Pluralismus, Menschenrechten und Rechtsstaat. Insofern liegt Gewalt eben nicht per se in der DNA aller Rechten, wie Stegner behauptete.

Darum sollten an dieser Stelle andere Konfliktlinien gezogen werden: Auf der einen Seite stehen jene, die den pluralistischen Rechtsstaat achten, auf der anderen die, die ihn verachten. Wenn Rechtskonservative beispielsweise darauf bestehen, dass ein Grundmaß an kultureller Homogenität für die Stabilität einer Gesellschaft wichtig ist, ist das ein Argument, das diskutiert gehört. Alle Rechten in einen Topf zu schmeißen, ist genau so ein Fehler, wie es einer ist, alle Linken über einen Kamm zu scheren. Rechtsextreme erkennen nicht die Gleichwertigkeit alles Menschen an und stehen damit im Widerspruch zum Grundgesetz. Sie unterscheiden sich darin auch allerdings von den meisten Linken, die darum ja gerade von Rechtsextremn als „Gutmenschen“ bezeichnet werden. Allerdings ist die Linie oft nicht eindeutig sichtbar. Menschenverachter jeder politischen Ausrichtung verstecken in der Regel ihre wahren Ansichten. Mitunter sind sie sich auch gar nicht bewusst, wie menschenfeindlich und gefährlich ihre Weltsicht ist. Ethnopluralisten weisen beispielsweise jedem Volk eine bestimmte „Kultur“, bestimmte Charaktereigenschaften und einen bestimmten Ort zu, an den sie gehören. Aus Sicht der Ethnopluralisten ist das nicht menschenfeindlich. Werden aber diese Gedanken präzise zu Ende gedacht, zeigen sie sich in ihrer ganzen Gefährlichkeit: Sich „Kultur“ als Programm vorzustellen, das abgespult wird, und das Verhalten der Menschen bestimmt, als seien sie mehr oder weniger Roboter oder Tiere, die instinkthaft handeln, entmenschlicht sie und schafft Klüfte zwischen den Menschen, die nicht überwindbar sind. Auch die Vorstellung, jedem „Volk“ gehöre zu einem bestimmten Ort der Erde, muss zur Gewalt führen, weil sich diese Gebiete meist überlappen.

Wenn also die Grenzen der pluralistischen Ordnung oft nicht eindeutig sind, wie kann sie mit menschenfeindlichen Ideologien umgehen? Das Konzept des Totalitarismus verführt selbst zur Dämonisierung der Gegenseite. Wer schlampig sucht, der findet leicht die Samen des (totalitären) Bösen. Und wer glaubt, diese Samen von Grund auf ausrotten oder schon im Ansatz unterdrücken zu können, wird das nur mit Hilfe eines autoritären Staates können, der selbst das offene Gespräch hasst. Ein pluralistischer Rechtsstaat muss offen, mutig und besonnen handeln. Extremisten müssen ein Stück weit ausgehalten werden. Wo die Grenze dieser Toleranz verläuft, zeigt das Grundgesetz auf. Und werden diese Grenzen überschritten, muss das Gesetz auch mit Gewalt durchgesetzt werden. Diese Gewalt muss sich allerdings streng an seine eigenen Regeln halten, weil der Rechtsstaat sich sonst selbst verliert und in die Barbarei abrutscht. Offenheit und Fairness, die auf den ersten Blick wie Schwächen wirken, sind letztendlich seine stärksten Waffen. Totalitäre und menschenfeindliche Ideologien werden am wirkungsvollsten durch eine faire und offene Gesellschaft und durch die Bereitschaft, sachlich und wahrheitsliebend miteinander zu sprechen. Das öffnet Echokammern und untergräbt wahnhafte Vorstellungen, die totalitäre und menschenfeindliche Ideologien benötigen.

Gerade in diesen so nervösen Zeiten ist es wichtig, die Konfliktlinie zu ziehen, zwischen jenen, die die Würde des Menschen für unantastbar halten und sich darüber im Klaren sind, dass Streit zu einer gesunden politischen Kultur gehört, und zwischen denen, die menschenfeindliche und totalitäre Ideologien vertreten.

 

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