Im Fallen

Seine Ohren platzten fast von dem Druck, der beim Fallen entstand. Aber das erste Entsetzen war vorbei, das seinen Körper steif wie ein Brett gemacht hatte, das ihn dazu gebrachte hatte, die Augen panisch und mit aller Kraft zusammenzukneifen, die Schultern dabei so hart wie Stein an die Ohren gepresst, die Arme vor sich ausgestreckt, als hätte er damit seine Landung abfangen können. Er fiel schon so lange. Es fühlte sich jetzt an wie fliegen, mit riesengroßen, panisch flatternden Schmetterlingen im Bauch, nur dass er nichts, gar nichts sah. Es war egal, ob er die Augen öffnete oder schloss. Genau so gut hätte er blind sein können! Er flog in der Schwärze… . Phasen kamen und gingen, in denen er sich an oben erinnerte. Taghelle Bilder mit Gefühlen und Impulsen und in seinen Ohren lärmenden, grellen Farben und Formen und Schmerz.
Ab einer bestimmten Fallhöhe bleibt auch die Fallgeschwindigkeit gleich. Gedankenblitze: Er hätte nicht in die Nähe des Lochs kommen dürfen. Immer wieder hatten sie es gesagt: Geh nicht zum Loch! Aber diese Schwärze war so reizend, so unendlich interessant gewesen. Er war wie verknallt gewesen, in das Loch. Manchmal hatte er gefühlt, wie in diesem Loch die Wirklichkeit atmete, während er und seine Welt nur Schein waren.
Niemand hatte etwas gewusst, über das Loch. Es war nur da. Es war so tief, dass niemand gewusst hatte, wie tief es war. Niemand hatte überhaupt etwas gewusst! Manchmal hatte er schlecht von dem Loch geträumt, Träume die ihn den ganzen Tag begleitet- und dann an seinen Gedanken geklebt hatten wie Scheiße am Schuh.
Dann hatte er wieder Tagträume gehabt, wie er sich hineinfallen ließ, und fiel und flog und sich öffnete und in das Wesentliche einging, unten, dort alle Antworten fand, auf alle Fragen, die ihn trieben. Ein Ende dieses Treibens! Dieser Frieden, diese Schwärze war so zuckersüß gewesen! Vielleicht war er auch immer beim Loch gewesen, weil er sterben wollte? Sterben! Vielleicht. Er fiel. Er bekam schon lange keine Luft mehr, aber das war egal! Er wehrte sich nicht mehr. Es war ok. Er war ganz von Schwärze umschlossen. Schwärze, ein Loch, offener Raum. Vielleicht würde er ja am anderen Ende der Welt herauskommen? Oder ganz woanders? Sicher würde er gleich ersticken! Er wurde ruhig. Die Schwärze drang langsam in sein Ich ein. Er fiel. Seine Muskeln, sein Bewusstsein wurden ganz weich im Fallen. Angenehm weich. Sehr angenehm! Er lächelte sanft. Er lachte, lachte laut, tief in die weite Stille hinein. Er ließ los. Die Schwärze war willkommen! Jede seiner Zellen öffnete sich, im Fallen, in dieser vollkommen stillen Weite. Er lachte, sein Gesicht ekstatisch verzerrt. Keiner sah ihn, tief in diesem Raum, der kein Licht erlaubt. Keins. Schwarze, sehr langsame Kühle floss, eine die alles, was vorher in ihm gewimmelt und gewuselt und gedrückt und geleuchtet hatte, beruhigte, schlafen legte, auslöschte, schwarz machte. Dann merkte er, dass er ausatmen konnte. Endlich konnte er ausatmen. Endlich… . Er keuchte, hustete krächzend. Dann musste er ein letztes mal glucksend lachend – er war schon ein anderer, alles war anders, nun. Schwarz.

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