Das hier ist eine Zusammenfassung von Nancy Frasers Text „A triple Movement“. Damit zeige ich, dass Nancy Fraser Kritik am progressivem Neoliberalismus nicht das heißt, was Leute wie Wagenknecht daraus machen.
Zuerst mal: Auch wenn der Titel so wirkt, dieser Text ist nicht lustig gemeint. Ich fand den Titel halt passend und ich wollte ihn nicht mit langen und komplizierten Wörtern vollstopfen.
Jetzt zum Inhalt: „Identitätspolitik“ ist ein Thema, über das unfassbar viel Unsinn erzählt wird. Und dieser Unsinn wird von sehr vielen Leuten sehr oft und mit viel Überzeugung wiederholt. Von Ulf Porschardt, dem Chef der rechts-konservativen Zeitung „Die Welt“, über den SPD-Politiker Thierse bis zur Linken-Politikerin Wagenknecht: Alle behaupten Sie dasselbe:
Die Linke mit ihrer irren und totalitären „Identitätspolitik“ sei schuld an den Rechten. Sie hat angeblich die einfachen Leute und die Arbeiterklasse im Stich gelassen und orientiert sich nur an „skurillen Minderheiten“. Sie solle sich quasi wieder auf die deutsche, weiße, männliche Arbeiterklasse konzentrieren. Letzteres ist eine weit verbreitete Vorstellung, die sich nur halt nicht mit den Tatsachen deckt. Gerade zu den „einfachen Leuten“, die nicht von der „Arbeit ihres Kapitals“ leben können, gehören besonders viele Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte. Besonders ärgerlich wird es, wenn sich Leute, die das behaupten, auf die New Yorker Theoretikerin Nancy Fraser beziehen und sie entweder absichtlich oder aus Ignoranz falsch verstehen. Darum zeige ich hier an Hand eines bestimmten Textes von ihr, was sie wirklich Kluges sagt. Er heißt „A triple movement“, übersetzt etwa „eine Dreifachbewegung“. Ich versuche ihn, in Alltagssprache zu erklären. Was gar nicht so einfach ist.
Ganz grob gesagt: Das Wort „Dreifachbewegung“ bezieht sich auf drei verschiedene, politische Kräfte, die in den letzten Jahrzehnten unsere Welt bewegt haben. Die Kräfte der Märkte, die Kräfte der Emanzipation und die Kräfte für soziale Gerechtigkeit. Fraser bezieht sich auf ein Buch des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi. Es heißt „Die große Transformation“. Darin beschreibt er den tiefgreifenden Wandel der westlichen Gesellschaftsordnung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dieser Wandel wurde vor allem durch die Kämpfe zweier gegensätzlicher Kräfte (oder Bewegungen) angetrieben. Er spricht von einer ,Doppelbewegung‘. Die eine Bewegung entstammte politischen Kräften und kommerziellen Interessen, die daran arbeiten, immer weitere Bereiche der Welt, (beispielsweise Wasser, Boden und Liebe) zu Geld, also zu Waren machen, die auf einem Markt ge- und verkauft werden können. Der freigelassene Markt sei eine „Teufelsmühle“, sagt Polanyi, die die Gesellschaft und Natur zugrunde richtet.
Auf der anderen Seite stand eine Front auf breiter Basis. Sie kämpften für den Schutz der Gesellschaft, „sozialer Schutz“, wie Fraser es mit Polanyi nennt. Zu dieser Front gehörten ländliche Arbeiter*innen, Sozialist*innen, aber auch Konservative, die die Gesellschaft verteidigten, gegen die Verwüstungen des Marktes. Diese Front eint eine Überzeugung: Märkte zerstören die Gesellschaft. Wir brauchen politische Regulierungen, wir brauchen höhere Löhne, Sozialwohnungen, ein ordentliches Gesundheitssystem für alle und Arbeitslosengeld, um die Gesellschaft zu retten[1].
Fraser sagt: Auch heute haben wir eine schwere Krise. Damals, am Ende der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, hätten diejenigen mehr oder weniger gewonnen, die für soziale Protektion kämpfen. Es wurden viele Gesetze und Maßnahmen eingeführt, die dafür sorgen, dass Arbeitende besser leben können, dass Arme weniger arm und gesundheitlich versorgt sind. Wir könnten darüber streiten, ob sie wirklich „gewonnen“ haben, in jedem Fall waren sie sehr erfolgreich dabei, die Exzesse des Marktes zurückzudrängen. Doch dann begannen seit den 1970ers Regierungen auf aller Welt, diese sozialen Protektionen schrittweise wieder abzubauen.
Heute seien die Umstände andere, sagt Fraser. Es fehle nämlich das eine, große Ziel, auf das wir uns alle geeinigt haben und für das wir kämpfen. Reiche Eliten sind sich dagegen weitgehend einig. Unter ihnen bestehe ein neoliberaler Konsens. Vereinfacht gesagt: Sie wollen Geld machen. Unternehmen sollen von der Politik möglichst darin unterstützt werden, Profite zu machen. Die neoliberale Idee ist, dass das letztendlich allen nützt. Denn die Reichen geben Geld aus, stellen Leute ein, und so weiter. Dadurch entstehen angeblich Jobs und der Reichtum aller vermehrt sich. Fraser fragt: Warum gibt es aktuell keine angemessene „Doppelbewegung“? Warum organisiert sich die Gesellschaft nicht, um sich vor dieser zerstörerischen Kraft zu schützen?
Sie hält die Frage für falsch gestellt. Zwar fehle eine breite Front gegen die zerstörerischen Kräfte des Marktes und das sei tatsächlich ein massives Problem. Dafür kämpfen Aktivist*innen auf einer anderen Front: Der der Emanzipation. Das ist die dritte Kraft, ohne die politische Verhältnisse in unseren Gesellschaften nicht zu verstehen sind. Seit den 1960er-Jahren kämpften weltweit eine Reihe emanzipatorischer Bewegungen gegen Rassismus und Imperialismus, für Pazifismus und Feminismus, für die Befreiung von LGBTQ-Leuten und so weiter. Die soziale Schutz-Bewegung hatte ihnen vorher gesagt, dass ihre Kämpfe entweder unwichtig oder nachrangig seien, dass es wichtiger sei, sich auf den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit zu konzentrieren. Doch diese neuen Bewegungen wollte nicht bis „nach der Revolution“ warten, bis sie nicht mehr unterdrückt werden.
Diese Bewegungen fokussieren sich oftmals eher auf Anerkennung als auf soziale Protektion. Fehlende Anerkennung heißt für Fraser nicht nur eine respektvolle Ansprache, sondern dass Menschen nicht als gleichwertig anerkannt, nicht als volle Partner in der Gesellschaft zugelassen werden[2]. Sie werden ausgegrenzt und das begünstigt wiederum Armut, Ausbeutung und Gewalt.
Während das „Wir gegen Die“ der sozialen Protektion dazu neigt, reich gegen arm, oben gegen unten zu stellen, greift die Bewegung der Emanzipation auch unterdrückerische Handlungen, Gewohnheiten und Ansichten auf Seiten der „einfachen Leute“ an. Die Aktivist*innen kritisieren kulturelle Normen, auch solche, die die Grundlagen für soziale Protektion lieferten und liefern. Beispielsweise führt das klassische Hetero-Mann-Frau-Modell (oder auf akademisch gesagt: das heteronormative Modell) dazu, dass vom Mann erwartet wurde, zu arbeiten und Geld zu verdienen, während Frauen zuhause bleiben mussten, dem Mann unterworfen. Ein selbständiges Einkommen wurde Frauen nicht ermöglicht[3], gerade auch nicht vom traditionellen Sozialstaat. Anti-Imperialist*innen kritisieren postkoloniale Ausbeutung, von der zum Teil auch Arbeitende profitieren, indem sie billige Lebensmittel und Smartphones bekommen. LGBT-Aktivist*innen griffen und greifen homophobe Einstellungen und Gewalt gegen Lesben und Schwule an, die teils heute noch enorm verbreitet sind. Ziel der emanzipativen Bewegungen ist nicht zuerst die Verteidigung der Gesellschaft vor den Kräften des Marktes, sondern die Überwindung von Diskriminierung und Herrschaft, auch innerhalb der eigenen Gemeinschaften. Und sie errangen damit riesige Erfolge.
Politische Konflikte entstammen also nicht mehr nur zwei Polen. Nicht mehr nur die Kapitalisten und ihre Freunde gegen die arbeitenden und armen Menschen und ihre Freund*innen, sondern es ist ein dritter Pol dazugekommen: Der Pol der Emanzipation. Jede dieser Seiten kann mit der anderen zusammenarbeiten. So habe die Seite des Marktes mit dem moderaten Flügel der Seite der Emanzipation zusammengearbeitet. Dieser zeigt sich beispielhaft, wenn Apple sich damit schmückt, die LGBTQ-Communities zu unterstützen, während die Firma unter so ausbeuterischen Bedingungen ihre Waren herstellen lässt, dass die Arbeitenden sich vom Fabrikdach stürzten. Sie verpassen sich damit einen regenbogenfarbigen Glanz.
Progressiver Neoliberalismus ist der Teil von Frasers Kritik, der mit viel Mühe zu Wagenknechts Fantasiegebilde einer „Lifestyle-Linken“ passt. Nur dass Fraser damit eher die Politik von Menschen wie Bill Clinton oder Justin Trudeau meinte, die ganz eindeutig ihre neoliberale Politik gerne regenbogenfarben anstreichen. Gegen den Großteil der Linken ist die Kritik aber so nicht gerichtet. Denn der Unterschied ist der: Fraser sagt, die Trennung von sozialem Schutz und Emanzipation ist das Problem. Genau diese Trennung propagieren ja Leute wie Wagenknecht und Rechte wie Poschardt. Dagegen sind die meisten, die für diskriminierungsfreie Sprache kämpfen, stärker auch für Umverteilung.
Fraser führt in „A Triple Movement“ aus, dass jeder dieser Pole in sich zwiespältig ist. So schütze soziale Protektion zwar vor den zerstörerischen Kräften der Märkte. Gleichzeitig verankere sie Herrschaft innerhalb der Gemeinschaften. Die zerstörerischen Kräfte des Marktes können auch unterdrückerische, traditionelle Strukturen auflösen, wenn beispielsweise Frauen die Möglichkeit bekommen, ihr eigenes Geld zu verdienen. Aber auch der Pol der Emanzipation sei zwiespältig. Die Kräfte der Emanzipation können durchaus bestimmte Bündnisse angreifen und damit den Weg freimachen für die Kräfte des Marktes[5].
Neoliberale Kräfte zögen Stärke daraus, sich mit den Federn der Rebellion und der Befreiung zu schmücken. Die Kräfte der sozialen Protektion seien dagegen demoralisiert und in der Defensive. Ihnen fehle es an Überzeugung, sie erzeugten keine ,romance‘, keine gegenhegemoniale Vision, die eine Gegnerschaft zum Neoliberalismus erwecken könne. Auch die Seite der Emanzipation sei in einer schwierigen Lage, aufgrund ihrer teils unkritischen Annäherung an leistungsideologischem Individualismus und Konsumerismus.
Fraser erklärt aber, dass es keinen Grund gebe, den Verlust des alten ,Double Movement‘ zwischen den Marktkräften und des sozialen Schutzes zu betrauern, wie es Leute wie Wagenknecht tun. Die traditionellen Kräfte des sozialen Schutzes waren in sich vielfach hierarchisch und unterdrückerisch organisiert. Deren Unschuld sei für immer zerstört. Von nun an gebe es keinen Schutz ohne Emanzipation. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben: Wer nur die deutsche, weiße, männliche Arbeiterklasse ansprechen will, kommt nicht mehr weit und verstrickt sich in Widersprüche. Wer Emanzipation ohne soziale Gerechtigkeit denkt, kommt ebenfalls nicht weiter. Beides gehört zusammen.
Und hier gibt’s den Text auch zum lesen.
[1] Fraser, Nancy: A Triple Movement? Parsing the Politics of Crisis after Polanyi. In: New Left Review, o.D., S. 120. https://newleftreview.org/issues/II81/articles/nancy-fraser-a-triple-movement
[2] Fraser, Nancy. “Heterosexism, Misrecognition, and Capitalism: A Response to Judith Butler.” Social Text, no. 52/53, Duke University Press, 1997, pp. 279–89, https://doi.org/10.2307/466745. S.280
[3] Träger, Jutta (2009): Familie im Umbruch: quantitative und qualitative Befunde zur Wahl von Familienmodellen, 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 26
[5] Fraser, Triple Movement: S. 129.
Kommentar verfassen