Ergänzungen zu meinem Artikel in der Zeit

Es ist eher nervig, wenn ein sorgfältig formulierter Text – verfasst auch mit Unterstützung eines klugen Redakteurs – in der Kommentarspalte ein Eigenleben entwickelt. Plötzlich tauchen Argumente auf, die man selbst nie geäußert hat, oder Behauptungen, die sich mit einem simplen Blick in die Statistik widerlegen ließen. Manche Einwände sind pure Polemik, manche schlicht Fake News – doch einige sind ernst gemeint und verdienen eine sachliche Antwort. Einige dieser Einwände möchte ich hier aufgreifen.

Migration: Realität und Verzerrungen

Dass ich das Thema Migration im Artikel ausgespart habe, bedeutet nicht, dass ich es für irrelevant halte. Tatsächlich halte ich es für ein wichtiges Thema. Es muss nur klüger diskutiert werden, als es oft getan wird. Ursprünglich hatte ich dazu einen Absatz in dem Text vorgesehen. Doch die immer neuen Wellen rechter Propaganda, machen eine sachliche Auseinandersetzung schwierig. Man muss vor jeder Aussage viele falsche Behauptungen richtigstellen. Das wird dann perfiderweise als „Ausflüchte suchen“ interpretiert. Darum rede zumindest ich nur selten und dann sehr bedacht über negative Seiten von Migration. Das tue ich nicht, weil ich darüber generell nicht reden will, sondern weil ich SO nicht darüber reden will. Alleine die weit verbreitete Art des darüber Redens hat einen negativen Effekt, so wie es einen negativen Effekt auf eine von Mobbing betroffene Person hat, wenn man immer weiter über negative Seiten dieser Person spricht. Es ist also hauptsächlich die Propaganda der Rechten, die eine vernünftige Debatte verhindert.

Um es aber klar zu stellen: Natürlich bringt Migration gesellschaftliche Probleme mit sich. Fakt ist, Deutschland hat seit 2015 Millionen Menschen aufgenommen – das ist viel. Auch ohne rechtspopulistische Dramatisierung lässt sich sagen, dass sehr hohe Zuwanderung jede Gesellschaft stark beansprucht, besonders wenn ein großer kultureller Abstand besteht. Ich verwende bewusst das Wort Abstand und nicht Unterschied: Problematisch ist nämlich nicht, über kulturelle Abstände zu sprechen, die gibt es. Problematisch ist es: 1. So zu tun, als seien Menschen aus bestimmten „Kulturkreisen“ alle gleich und deren Kultur ein Programm, dass sie wie Roboter abspielen 2. Wenn die Mehrheitsgesellschaft Migranten zur Projektionsfläche für alles machen, was man selbst schlecht findet. Das Schwarz, dass das eigene Weiß heller strahlen lässt. 3. Zu ignorieren, dass materielle und soziale Faktoren menschliches Handeln entscheidend beeinflussen. „Kultur“ spielt auch eine Rolle, aber nur eine von vielen. Außerdem ist „Kultur“ in anderen Ländern mindestens genauso heterogen wie in Deutschland. Von „deren Kultur“ zu sprechen, ist also Quatsch. Dass es aber bestimmte statistische Häufungen gibt, ist wahr. Aber auch die müssen genau analyisiert werden und nicht reflexhaft benutzt, um die eigenen Ressentiments zu belegen.

Migration kann eine gesellschaftliche Belastung sein – schon deshalb, weil Veränderungen für Menschen und Gesellschaften nur in begrenztem Maß verkraftbar sind. Die „Veränderungsmüdigkeit“ vieler Ostdeutscher ist empirisch belegt und nachvollziehbar. Zudem benötigen Neuankommende – wie alle Menschen – Teilhabe, die jedoch durch Ungleichheit, Armut und unzureichende öffentliche Leistungen erschwert wird. Nehmen wir das Beispiel der „Ausländerkriminalität“. Dass es da, und auch unter Deutschen mit Migrationsgeschichte Häufungen gibt, ist klar. Klar ist aber auch, dass die hauptsächlichen Gründe dafür Geschlecht, Alter und Klasselage sind. Das zeigen Studien immer wieder. Nicht die „Kultur“. Das ist keine Ausrede sondern eine Tatsache, die individuelle Verantwortung nicht leugnet.


Begünstigt wird Integration und Teilhabe dagegen durch eine funktionierende sozialpolitische Infrastruktur, wie ich sie im Artikel beschrieben habe. Bevor jemand fragt: Ja, dazu gehört auch ein starker Rechtsstaat, der Menschen wirksam vor Kriminalität schützt.

Gleichzeitig ist unbestreitbar, dass Migration Deutschland in vielerlei Hinsicht bereichert. Das erlebe ich jeden Tag. Die verzerrte Negativsicht der Rechten können viele, die tatsächlich Tür an Tür mit Migranten leben und täglich mit ihnen arbeiten, kaum nachvollziehen – wie sich etwa an den Wahlergebnissen in Berlin-Neukölln oder Friedrichshain zeigt (Analyse zur Bundestagswahl 2025, SVR-Positionspapier 2025–2029).

Armut, Sozialstaat und politische Realität

In den Kommentaren zu meinem Artikel wurde häufig behauptet, der deutsche Sozialstaat sei „völlig ausreichend“. Ein Faktencheck zeigt aber: Trotz hoher Sozialausgaben geht es vielen Menschen schlecht. Studien belegen, dass relative Armut vor allem Menschen mit Niedriglohn, Alleinerziehende, Kranke oder chronisch Erwerbsunfähige trifft. Die Zahl der working poor ist seit den Arbeitsmarktreformen deutlich gestiegen. Armut hat in den meisten Fällen strukturelle Ursachen – zu niedrige Löhne, unsichere Jobs, fehlende Kinderbetreuung oder eingeschränkten Zugang zu guter Bildung – und ist nicht Ausdruck mangelnden Arbeitswillens. Wer das leugnet, leugnet handfeste Realitäten.

Ein Blick ins Ausland kann lehrreich sein. In skandinavischen Staaten etwa ist der Sozialstaat stärker ausgebaut, und Armut tritt seltener auf. Das Vertrauen in den Staat ist dort nachweislich deutlich stärker. Die vergangenen Jahre zeigen allerdings, dass selbst dort wirtschaftliche Unsicherheiten und Migrationsdebatten das Erstarken rechter Parteien befördern können. Das verdeutlicht: Ein besserer Sozialstaat allein schützt nicht automatisch vor gesellschaftlicher Polarisierung. Dazu habe ich in meinem Zeit-Text auch einiges geschrieben. (Böll-Stiftung: Eine Frage der Klasse)


Immer wieder wird auch argumentiert, dass das Bürgergeld sich kaum von Niedriglöhnen unterscheide. Dann sollte die Schlussfolgerung aber nicht sein, den Armen noch weniger zu geben, sondern denen, die Arbeit haben, mehr. Eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie zeigt, dass das Vermögen der Superreichen in Deutschland mindestens 1,4 Billionen Euro beträgt. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass die Steuersätze für Erträge aus diesen Vermögen seit Mitte der 1990er Jahre deutlich gesenkt wurden und dass eine Wiedereinführung einer Vermögenssteuer erhebliche Mehreinnahmen generieren könnte.

Die Mittelschicht wird zu sehr belastet

Auch die Frage nach der finanziellen Belastung der Mittelschicht ist untrennbar mit der demokratischer Resilienz verbunden. Mehrere Kommentatoren sprachen diese Belastungen an – allerdings ohne auf meine Argumente im Text einzugehen. Ich vermute, sie haben sie nicht gelesen.. Dabei erkläre ich ausdrücklich: Die Mittelschicht in Deutschland ist schwer belastet. Die Steuer- und Abgabenquote für mittlere Einkommen gehört hierzulande zu den höchsten weltweit – und wird nicht durch ein stabiles, chancenförderndes Sozialsystem und öffentliche Dienstleistungen kompensiert.

Ein Gegenbeispiel sind die skandinavischen Länder. Zwar kämpfen auch die mit Rechtspopulismus und wachsender Vermögensungleichheit. Dennoch wird der Wohlfahrtsstaat dort mehrheitlich als stark und sinnvoll wahrgenommen, was zur inneren Stabilität beiträgt. Schulen, Krankenhäuser und soziale Einrichtungen arbeiten vielerorts effizienter und inklusiver als in Deutschland. Dabei herrscht weniger Leistungsdruck, während gesellschaftliche Integration und staatliche Unterstützung stärker gefördert werden (Dallinger: Die prekäre Mitte).

Ist Ungleichheit gut für die Wirtschaft?

Außerdem wurde in den Kommentaren mehrfach behauptet, dass die Ungleichheit schlicht notwendig sei. Sonst hätten Wirtschaften keine Grund zu wachsen. Die Studie „Income Inequality and Economic Growth: A Meta-Analytic Approach“ von 2025 vergleicht 34 Studien zur Frage, ob große Einkommensungleichheit dem Wachstum einer Wirtschaft schadet. Die Studien wurden im Zeitraum von 1994 bis 2024 veröffentlicht. Sie kommt insgesamt zum Ergebnis, dass große Ungleichheit eindeutig der Wirtschaft schadet. Das ist insofern ein klares Ergebnis. Meta-Studien gelten als der stärkste Beleg der wissenschaftlichen Forschung. Dann kommt natürlich die Frage, was „große Ungleichheit“ ist, aber ich finde, das reicht erst mal für nen Blogartikel, den kaum jemand liest.

ist von Lisa Capretti und Lorenzo Tonni

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