Wokeness: Warum der dritte Stuhl der schlaueste ist

Ich schließe meine Textreihe über Wokeness hier mit einem kurzen Blogbeitrag ab. Darin erklärte ich, was ich mit „aggressiver Wokeness“ meine, und warum nicht der Platz am Boden sondern das Einnehmen einer dritten Position das Schlauste ist.

„Der ehrenwerteste Platz ist immer zwischen den Stühlen“, schrieb jemand unter einen meiner Instagram-Artikel. Es ging um meinen taz-Text über Wokeness – und der brachte mir von beiden Seiten heftige Angriffe ein. Auf Instagram beschimpften mich aggressive Wokis, auf Twitter aggressive Anti-Wokis. Mein Artikel wandte sich gegen beides: gegen eine aggressive „Wokeness“ ebenso wie gegen anti-woke Hysterie und Propaganda. Über Letzteres – das größere Problem – hatte ich bereits im Februar bei Zeit-Online geschrieben.

Das Bild mit den Stühlen gefällt mir, weil es so heroisch klingt. Gleichzeitig ist es schief. Denn man sollte nicht nur irgendwie zwischen den Stühlen sitzen, sondern auch klar Position beziehen. Und das tue ich. Ich stelle mich nicht zwischen die Positionen, sondern vertete eine eigene. Eine, die wohl der Mehrheitsposition entspricht. Die extremen woken und anti-woken Haltungen sind Minderheitspositionen, die jedoch mit großer Energie und Lautstärke vorgetragen werden und dadurch dominanter wirken, als sie sind.

In meinem taz-Text erkläre ich, dass „Wokeness“ längst ein Kampfbegriff geworden ist. Für präziser halte ich den Begriff „emanzipatorische Kulturpolitik“: Diese ist inspiriert von feministischen und postkolonialen Theorien, sie fokussiert sich auf kulturelle und sprachliche Fragen. Das ist sinnvoll. Um es klar zu sagen: Ich halte „Wokeness“ im Sinne einer emanzipatorischen Kulturpolitik für sinnvoll. Viele Studien belegen, dass inklusive Sprache die Welt verbessert. Wir sollten unser Denken und Fühlen regelmäßig hinterfragen, weil uns sonst unbewusste Ideologien wie Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus beeinflussen.

Aber es gibt auch eine kleine Minderheit, die Kultur- und Sprachpolitik aggressiv und vorwurfsvoll betreibt. Das vergrault Mehrheiten – und wirkt oft klassistisch. Denn diese Form der Kulturpolitik ist eng an akademische Milieus und Diskurse gebunden und erfordert erhebliche intellektuelle wie emotionale Ressourcen. Dazu kommt: Es gibt andere, mindestens ebenso wichtige Kampffelder. Wer kulturelle und sprachliche Fragen überbetont, während materielle Verhältnisse in den Hintergrund geraten, handelt einseitig. Das ist kein Argument gegen „Wokeness“, sondern gegen eine bestimmte, überspitzte Ausprägung davon. Aggressive Kulturpolitik kann berechtigt sein – etwa bei offenem Rassismus oder vielen #MeToo-Fällen – sollte aber auf solche Situationen beschränkt bleiben. Genau das argumentiere ich in meinem taz-Text.

Ein Problem hatte ich beim Schreiben des Textes: Ich belegte nicht, wo genau diese woke Aggressivität zu finden sei. Und tatsächlich – wer nach handfesten Belegen sucht, findet kaum Artikel, Sendungen oder ähnliches, die dem Klischee entsprechen. Die anti-woke Propaganda übertreibt das Problem bis ins Hysterische.

Und doch gibt es sie: die aggressiv Woken. Ich schätze sie auf ein paar tausend, aktiv vor allem auf Twitter, Tik Tok und Instagram. Daher gibt es auch so viele Anekdoten über woke Kulturkämpfer*innen, die sehr moralisierend und vorwurfsvoll auftreten. Solche Leute gibt es überall. Ich wurde zum Beispiel als „scheiße“ beschimpft, weil ich das Wort „Depp“ benutzt hatte – angeblich ein altes Naziwort und zudem ableistisch. Selbst wenn das mit dem Naziwort stimmt, ist es ein sehr spezialisiertes Wissen, das man nicht einfach voraussetzen kann. Jemanden dafür zu beschimpfen, ist eher toxisch, auch wenn der Hinweis selbst berechtigt sein mag.

Im Folgenden zeige ich einige Kommentar-Ausschnitte zu meinem Artikel – als Nachweis für aggressives Verhalten von „woken“ Personen. Dabei betone ich nochmals: In meinem Text habe ich ausdrücklich gesagt, dass Aggressivität in bestimmten Fällen sinnvoll ist, dass anti-woke Propaganda ein massives Problem darstellt und dass emanzipatorische Kulturpolitik wichtig ist.

Trotzdem gab es zahlreiche Kommentare, die meine Argumente völlig ignorierten und sehr einseitig waren. Wer ihnen widersprach, wurde als dumm, denkfaul, rechtsextrem oder generell als schlechter Mensch bezeichnet. Diese Aggressivität und Einseitigkeit findet sich allerdings nicht nur bei „woken“ Leuten. Es ist ein Phänomen aufgeheizter Debatten, in denen Triggerpunkte alles überlagern. Ich wurde weder bedroht noch gestalkt. Und klar: Rechte Aggression ist ungleich gefährlicher – sie geht oft mit massenhaften Bedrohungen bis hin zu Gewalt einher.

Mein Ziel ist nicht, an der anti-woken Propaganda mitzuwirken – im Gegenteil. Ich möchte die emanzipatorische Kulturpolitik verteidigen, auch gegen jene, die sie an den falschen Stellen aggressiv einsetzen. Und ich wünsche mir, dass mehr Menschen entschieden diesen „dritten Stuhl“ besetzen – damit die Debatte sachlicher und weniger polarisiert geführt wird.

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