Am 12ten Mai erschien in der Taz mein Artikel „Woker woke sein“. Darin versuche ich, eine sachlichere Position zum Thema Wokeness zu finden. Es geht um die Frage, warum auch bei Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte Wokeness eher unbeliebt ist. Dafür sehe ich zwei Gründe: (vor allem) antiwoke Propaganda und eine aggressive Form der „Wokeness“. Letztere kann in bestimmten Fällen sinnvoll sein, aber oft ist sie auch klassistisch und kontraproduktiv. Hier auf Taz lesen. Wer mag, kann für den Kontext auch noch meinen Zeit-Artikel zum Thema anti-woke Propaganda lesen.
Ich füge auch noch den weniger gekürzten Text unten ein:
Woker woke sein
Ein Großteil der deutschen Bevölkerung mag Wokeness nicht. Viele hassen sie sogar.
Diese Abneigung hegen nicht nur reiche, weiße Männer. Komisch, eigentlich. Obwohl woke Kulturkämpfende für die Rechte von Frauen und Migranten kämpfen, lehnen zwei von drei Frauen geschlechtergerechte Formulierungen ab. Das zeigte eine Infratest-Studie von 2021. In den USA lehnten 2018 migrantische Gruppen zu über 80 Prozent political correctness ab, obwohl die meisten von ihnen Rassismus als ernstzunehmendes Problem ansehen. Das ist vermutlich in Deutschland nicht anders. Dafür gibt es zwei zusammenhängende Gründe: Eine aggressive Form des woken Aktivismus einerseits und massive anti-woke Propaganda andererseits. Letztere wird insbesondere durch mächtige rechtspopulistische Akteure wie die deutsche Bildzeitung oder den Propaganda-Apparat des russischen Präsidenten Putin forciert.
Gespräch unter Erwachsenen
Wie sieht eine sachlichere Diskussion aus? Zum einen muss sie anerkennen, dass die schrillen Übertreibungen der Anti-Woken tatsächlich schrille Übertreibungen sind. Weder herrscht eine woke Meinungsdiktatur, noch steht Weihnachten kurz vor der Abschaffung, wie die anti-woken Hysteriker immer wieder behaupten. Ebenfalls unwahr ist das so oft vermittelte Bild, dass Leute, die für genderbewusste Sprache sind, mehrheitlich aggressive und wahnsinnige Moralisten sind. Die meisten sind sachlich argumentierende Menschen.
Wokeness, Identitätspolitik, politische Korrektheit, das sind Kampfbegriffe. Sachlicher, wenn auch deutlich klobiger wäre der Begriff „emanzipatorischer, kulturpolitischer Aktivismus“. Also eine bestimmte Form des emanzipatorischen Aktivismus, der – inspiriert von postkolonialen und feministischen Theorien – einen starken Fokus auf kulturelle und sprachliche Fragen legt. Diesen gibt es allerdings schon lange. Schon in den 1960er Jahren beklagten die Bildzeitung und Politiker der CSU in schrillen Tönen, linke, wahnsinnige Aktivisten würden alles zerstören was gut, schön und deutsch sei. Aktivistinnen von damals erreichten sehr viel. So dürfen Ehemänner seit 1997 nicht mehr ungestraft ihre Ehefrauen vergewaltigen. Auch ist lesbisch oder schwul sein heute in Deutschland nicht mehr strafbar.
Heute richten sich die aktivistischen Bemühungen seltener gegen in Gesetze festgeschriebene Unterdrückung, sondern gegen tief in der Alltagskultur verwurzelte Überzeugungen. Beispielsweise gegen toxische Männlichkeit, also die nachweisbare Tatsache, dass bestimmte, weit verbreitete Männlichkeitsbilder krank machen, weil sie Männlichkeit mit Härte, Dominanz und Durchsetzungsfähigkeit gleichsetzen.
Radikale Kulturkritik überfordert die meisten
Welche Form des kulturpolitischen Aktivismus ist erfolgversprechend im Kampf gegen toxische Männlichkeit und rassistische Ideologien? Ein aggressiv daherkommender Aktivismus kann lautstark auf Missstände hinweisen und gesellschaftliche Kräfte wecken. Das kann auch heute noch sinnvoll sein. Ein großer Teil der #metoo-Fälle zeigt sich ja gerade darin, dass manche die Grenzen anderer ignorieren. Diese Leute lassen sich nicht durch freundliche Denkeinladungen überzeugen, sondern werden in vielen Fällen zu Recht konfrontiert und beschämt.
Aggressiver Aktivismus hat aber auch große Schwächen: Wenn wir jede Diskriminierung oder Machtausübung erkennen und angreifen, ist das ein endloser Vorgang. Selbst grundsätzliche Identitätskategorien des Geschlechts oder der Herkunft werden dann in Frage gestellt. Konsequent durchgezogen erschüttert das das Welt- und Selbstbild von Menschen. Gerade Leute, deren Ressourcen daran gebunden sind, ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen und ansonsten kein Arschloch zu sein, haben mit solchen schweren Erschütterungen verständlicherweise ein Problem.
Dazu kommt, dass bestimmte Haltungen und Werte auch „gute“ Gründe in den konkreten Lebensbedingungen der Menschen haben. Für viele ist das Wegbeißen von Schwäche eine notwendige Fähigkeit, um in der kapitalistischen Gesellschaft klarzukommen. Leuten das umstandslos als „toxische Männlichkeit“ um die Ohren zu hauen, ist kontraproduktiv und grausam. Toxische Männlichkeit sollte benannt und bekämpft werden. Aber die entscheidende Ebene ist in diesem Fall die materiellen Bedingungen, die dieses Gift nötig machen. Das zu ignorieren ist klassistisch, um einen Begriff aus der emanzipatorischen Kulturkritik zu verwenden.
Kennen Sie einen Verkäufer oder eine DHL-Lieferantin mit Migrationsgeschichte, die oder der sich „POC“ nennt? Als „people of color“ bezeichnen sich in der Regel Leute, die etwas Geisteswissenschaftliches studiert haben oder studieren. Oder sie entstammen einem Milieu, das akademisch geprägt ist. Ernsthafte Kulturkritik ist kaum machbar, ohne den aktuellen, akademischen Diskussionen zu folgen. Wer nur auf der Grundlage von Memes und Bauchgefühlen teilhaben möchte, fängt sich mit der Zeit eine Reihe von Kränkungen und Frustrationen ein. Die zum Teil richtige Erkenntnis, dass wir allesamt rassistisch oder sexistisch sozialisiert sind, bedarf großer emotionaler und intellektueller Ressourcen. Sie ist damit für Leute aus akademischen Milieus deutlich leichter als für DHL-Lieferantinnen.
Sanfte und aggressive Wokeness
Es stimmt: Versteckte Ungleichheitsideologien in Sprache und Alltagskultur zu hinterfragen ist unerlässlich. Es ist gut, wenn nicht mehr überall weiße, wohlhabende Männer unwidersprochen den Ton angeben. Wenn aber sogar ein Großteil der direkt Betroffenen einen aggressiven Aktivismus ablehnen, sollte das zu denken geben.
Laut der Triggerpunkte-Studie von Mau, Westheuser und Lux sind etwa 80 Prozent der deutschen Bevölkerung dafür, Trans-Menschen als normal anzuerkennen und die Homo-Ehe zuzulassen. Diese Leute, sind nicht der Feind. Die Veränderung von tief eingeschliffenen Vorstellungen braucht Zeit. Eine sanftere „Wokeness“ arbeitet weniger mit Vorwürfen und mehr mit Argumenten und Augenhöhe. Sie muss aushalten, wenn Kritik nicht gleich angenommen wird. Vielleicht auch, weil das Argument nicht gut genug war. Ein Austausch auf Augenhöhe gibt dem Gegenüber die Möglichkeit, sich zu entwickeln und eine eigene Haltung zu den jeweiligen Fragen zu finden.
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